Medienforum 2021
Wir werden erzählen, dass wir existieren
Russlanddeutsche in Saratow
Die Spuren der deutschen Existenz im Wolgagebiet werden immer spärlicher. Doch dem Vergessen der Geschichte wirken junge Frauen entgegen.
“Haben Sie ein Lieblingsexponat?” Ohne zu zögern antwortet Svetlana Bobrova es sei das Himmelbett in der Ecke des Raumes. Svetlana ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Saratower Museum für Heimatkunde und führt uns durch den Ausstellungsraum, der den Wolgadeutschen der Saratower Oblast gewidmet ist.
Ende des 18. Jahrhunderts folgten mehr als 30.000 Deutsche dem Ruf der Zarin und ließen sich entlang der Wolga nieder, unter anderem auch in und rund um Saratow, einer Stadt rund 800 km südöstlich von Moskau.
Die Geschichte der Wolgadeutschen ist in ihren Anfängen eine hoffnungsvolle:
Im Jahr 1763 veröffentlichte die deutschstämmige Kaiserin Katharina II. ein Manifest über das Recht und die Möglichkeit für Ausländer, sich in russischen Provinzen niederzulassen. In die Gebiete an der Wolga sollen sie kommen, um die Landwirtschaft zu fördern und Überfälle von Reitervölkern aus den Nachbargebieten einzudämmen. Die Einladung ist mit einer Vielzahl an Privilegien verbunden: Befreiung vom Wehrdienst, Steuer- und Religionsfreiheit. Ein Segen für viele Deutsche lutherischen Glaubens.
Doch die russischen Steppe zeigt ihre Unbarmherzigkeit: Die Winter rau, die Sommer trocken, der Boden nur schwer kultivierbar. Trotz allem gelingt es den Deutschen hier ein kleines Wunder zu vollbringen. Die Region profitiert von den landwirtschaftlichen und handwerklichen Erzeugnissen der Siedler und macht die Russen mit drei ihnen bisher unbekannten deutschen Gütern bekannt: Senf, Tabak und der Kartoffel.
Svetlana Bobrova Foto: Alina Wagner
Schon bald eröffnen in Saratow Säge- und Ziegelwerke, Metallverarbeitende- und Maschinenbauunternehmen. Im 19. Jahrhundert wird Saratow führend in der Mehlproduktion. Die Dampfmühlen gehören Familien wie Barrel, Schmidt und Reinicke.
Doch die wenigsten Erfolgsgeschichten sind immerwährend. Unter dem letzten russischen Zaren Nikolai II. werden viele Privilegien rückgängig gemacht. Nach der Gründung der Sowjetunion im Jahre 1922 werden die deutschen Siedlungsgebiete als “Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen” zusammengefasst, die keinen Schutz vor den Zwangskollektivierungen der Zeit bieten.
Obwohl die wolgadeutsche Erfolgsgeschichte vor dem Zweiten Weltkrieg ihrem Ende entgegen blickte, so versetzte der Angriff der Nationalsozialisten auf die Sowjetunion im Jahre 1941 der deutschen Bevölkerung an der Wolga den endgültigen Schlag. Als Kollaborateure der Nationalsozialisten diffamiert, wurden die sie in die Weiten Sibiriens und Zentralasiens deportiert und zur Zwangsarbeit verordnet. Die Rückkehr an die Ufer ihres geliebten Flusses gelang nur den Wenigsten nach dem Krieg.Everything should be made as simple as possible, but not simpler.
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Die Wolga Welle
Laut einer Volkszählung des Jahres 2010, leben noch über 7000 Deutsche in Saratow. Zwei von ihnen sind die 19-jährige Gründerin und Leiterin des Jugendclubs “Wolga Welle” in Saratow
Viktoria Weinberger und Clubmitglied Elizaveta Gibelgaus (22).
Elizaveta dagegen musste ihre Identität vorerst ohne den Rückenwind der Familie erschließen: “Meine Mutter und mein Vater, sagen wir mal, repräsentieren den Höhepunkt der Russifizierung unserer Familie, so dass ich mich von Kindheit an nicht wirklich als Deutsche identifiziert habe. Das ist mir passiert, als ich älter wurde. Als ich dann 10 Jahre alt war, wusste ich es ganz genau - ich bin Deutsche.”
Viktoria sagt von sich, dass sie bereits im Alter von 10 Jahren wusste, dass sie Deutsche sei. Es ist das “Gedächtnis der Vorfahren,” wie sie es nennt. In ihrer Familie feiern sie Weihnachten am 24. und 25. Dezember und nicht erst vom 6. auf den 7. Januar.
Beide Frauen engagieren sich im Jugendclub, der sich mit russlanddeutschen Themen wie Kultur, Sprache und Geschichte befasst.
Unsere Interview-Helden
Viktoria Weinberger, 19 Jahre alt
Leiterin des Wolga Welle
Institut für Philologie und Journalismus (BA), Saratow Staatsuniversität

Woher kommen die Vorfahren: Hessen
Identität: Russlanddeutsche
Haben deutsche Traditionen und Bräuchen in der Familie: ja
"Seit meiner Kindheit fühle ich mich wie eine Russlanddeutsche"
Elizaveta Gibelgaus, 22 Jahre alt
Mitglied des Wolga Welle
Fakultät für Fremdsprachen und Sprachdidaktik (MA), Pädagogik (BA), Saratow Staatsuniversität

Woher kommen die Vorfahren: Bayern
Identität: Russlanddeutsche
Haben deutsche Traditionen und Bräuchen in der Familie: nein


„Meine Identifikation kam von innen, ich nenne es „Gedächtnis des Verfahrens“. Dann kam Einfluss von außen. Im Alter von 10 Jahren wusste ich: "Ich bin Deutsche".
Viktorias Weg in der russlanddeutschen Bewegung begann mit dem deutschsprachigen Theater Jugendstadt, wo sie zunächst als Journalistin dazu kam, dann aber Bühnenerfahrung sammelte. Die Aufführungen des Theaters haben eine entokulturelle Komponente. So erzählte das Theaterstück Reise durch Märchen, das für Viktoria das erste war, die Geschichte eines Helden, der eine magische Welt betrat und englische und lettische Märchen kennenlernte. Dann entdeckte er, dass es kein Märchen von Russlanddeutschen gab. Durch die Interaktion mit dem Publikum entsteht ein solches Märchen.
Bereits in der Schule merkte Wiktoria, dass ihre Geschichte sich von der Geschichte ihrer Klassenkamerad:innen unterscheidet. Der Krieg gegen NS-Deutschland nimmt einen großen Raum in der russischen Erinnerungskultur ein, sodass der Kampf gegen die NS-Ideologie gleichgesetzt wird mit dem Kampf gegen die deutsche Nationalität. Als sie im Unterricht einen Film über den Krieg schauten, fragte eine Klassenkameradin, ob ihre Verwandten auch im Film als Faschisten zu sehen seien.
Auf der einen Seite sei diese Haltung gegenüber den Deutschen verständlich. Doch wenn um den 9. Mai herum Kinder anfangen über die Kriegsteilnahme und Aufopferung der Urgroßeltern zu sprechen, sitzt im Klassenzimmer ein Mädchen mit einem deutschen Nachnamen, deren Geschichte sich von den der anderen unterscheidet. Die Kinder denken, dass der deutsche Nachname dann bedeutet, dass die Urgroßväter auf der anderen Seite gekämpft haben. Der Status des Feindes ist hier stark in Erinnerung geblieben,” erzählt Wiktoria.
Der Wunsch nach Theateraufführungen, kombiniert mit dem Eintauchen in die Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen veranlasste Wiktoria, den Jugendclub Wolga Welle zu gründen. Die Organisation hat drei Hauptrichtungen: theatralische, sprachliche und ethnokulturelle. Wiktorias Traum ist es, eine Theaterrichtung zu entwickeln und ihre eigenen lokalen Kurzaufführungen über Saratow hinaus aufzuführen, um über die Kultur und Geschichte der Russlanddeutschen unter den verschiedenen Nationalitäten Russlands zu informieren und bekanntzumachen.
Aufgrund der Corona-Beschränkungen finden derzeit keine Massenveranstaltungen statt und es ist schwierig, in Schulen und Universitäten zu gehen, um über die Aktivitäten der Wolga Welle zu erzählen. "Wir haben Möglichkeiten, und wenn es weniger Beschränkungen gibt, werden wir laut erzählen, dass wir existieren, wir haben solche Richtungen in unserem Jugendclub." Im nächsten Jahr plant die Organisation, sich stärker an den Aktivitäten der JDR und der IVRD zu beteiligen, um mehr mit anderen Russlanddeutschen in Kontakt zu treten und kulturelle Projekte zu verwirklichen.
Dem Vergessen entgegenwirken
Auf den ersten Blick wirkt Saratow wenig wie eine Stadt, die einst von Deutschen besiedelt wurde. Doch wer genau hinsieht, wird es im Saratower Stadtbild sehen, in seinen Bauten, in seinen Museen und vor allem in seinen Nachfahren.
Im nächsten Jahr soll die Ausstellung um die Russlanddeutschen im Saratower Heimatkundemuseum erweitert werden, erzählt uns Svetlana Bobrova. Hierfür sollen noch mehr Exponate, eventuell auch aus deutschen Museen herangeholt werden.
Im nächsten Jahr hoffen Wiktoria und Elizaveta, dass wieder Theateraufführungen stattfinden können.
Vielleicht braucht es manchmal das Vergessen, um aus traumatischen und schmerzhaften Erlebnissen eine Erinnerungskultur zu schaffen. Dies sind keine starren Konzepte. Erinnerungskultur darf sich verändern, sie darf auch mit anderen Erinnerungskulturen zusammenwachsen und nebeneinander existieren. Das Erinnern ist ein fester Bestandteil jeder Versöhnung. Es ist ein Zuhören und ein Erzählen. Und vielleicht Stoff für ein gemeinsames Märchen.
Unseres Team:

Franziska Venjakob, Kirill Podrjadtschikow, Alina Wagner, Veronika Laukhin, Margarita Khusiainova

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